Tomaten

Jedesmal, wenn ich im Bus sitze oder die Straße entlang gehe und auf eine Person stoße, frage ich mich, wer sie ist. Was sie denkt. Was sie alles schon durchgemacht hat. Die alte Oma, die gerade ihre Lidl Einkäufe ins Auto packt und das meiste davon Katzenfutter ist, ist sie wohl einsam? Hat sie vielleicht nur Katzen weil ihr Mann an einer Krankheit gestorben ist? Tröstet sie sich mit der Katze weil sie selber keine eigenen Kinder hat und ihre einzige Familie ihr toter Mann war? Ist die Katze vielleicht so etwas wie ein neuer Halt, wie eine Aufgabe, wie ein neuer Grund um aus dem Bett aufzustehen? Soll ich vielleicht zu ihr rüber gehen und ihr Gesellschaft leisten und ihr ein bisschen ihre Einsamkeit nehmen? Oder mag sie die Katze vielleicht garnicht und passt nur auf sie auf während ihre Tochter mit ihrem Mann und deren Kindern im Urlaub sind?
Oder das Mädchen, dass sich über die Mauer der Brücke lehnt um den Fluss und seine Bewegungnen zu beobachten. Denkt sie gerade über Suizid nach? Denkt sie gerade drüber nach, wie es wäre, wenn sie einfach weg wäre? Einfach weg, weg von all dem. Oder ist sie von zu Hause weggelaufen weil ihre Eltern sie misshandelt haben? Hat sie vielleicht gerade Probleme mit ihren Freunden weil sie sich ihnen nicht anvertraut hat und sie nun verägert sind? Steht sie gerade vor einer sehr wichtigen Entscheidung und ist der Blick in das Wasser für sie eine Art Befreiung oder Flucht vor der Realität? Guckt sie ins Wasser weil sie gerne woanders sein möchte? Weit, weit weg von ihren Problemen und dem Druck der auf ihr lastet? Möchte sie vielleicht so wie der Fluss, voller Bewegung, Tiefe und Magischem sein? Braucht sie vielleicht Hilfe? Sollte ich sie mal ansprechen und fragen wie es ihr geht und ihr zuhören?
Oder der Mann, der erst vor einer Woche nebenan eingezogen ist, warum wohnt er alleine? Hat er vielleicht keinen Erfolg in seinem Job gehabt, wurde gekündigt und landete in einer Midlife Crisis weil er als Versorger der Familie, nicht mehr nützlich war? Hat sich vielleicht gerade seine Frau von ihm getrennt weil er sich seit zwei Jahren nur hängen gelassen hat, nichts gemacht hat und die Frau überfordert war? Sind die Kinder bei seiner Frau geblieben weil er früher von morgens bis nachts gearbeitet hat und somit keine Zeit für das Volleyball Tunier seiner Tochter oder dem Buchstabier Wettbewerb seines Sohnes hatte? Hat er vielleicht gerade alles verloren und braucht jemanden, der ihm wieder hilft auf die Beine zu kommen? Sollte ich mal rüber gehen und Hallo sagen?
Für jede Person, gibt es eine Geschichte. Doch ich frage nie nach, ich gehe einfach vorbei, denke mir meine Szenarien aus. Manchmal beschäftige ich mich so sehr mit einer Person, dass sie mir noch längere Zeit im Kopf bleibt. Aber danach vergesse ich sie einfach wieder, ich vergesse die alte Frau, die einsam ist. Ich vergesse das Mädchen, das unter dem Stress zusammenbricht. Ich vergesse den Mann, der gerade alles verloren hat. Und was ist, wenn mich mal jemand vergisst? Wenn ich Hilfe brauche und jeder an mir vorbei geht? Wenn ich innerlich auseinander breche und meine Schreie so leise sind, dass man sie nur hören könnte wenn man auf mich zu geht? Ich möchte nicht vergessen werden. Jedoch vergesse ich all diese anderen Menschen, mit ihren eigenen Geschichten und ihrem ganz eigenem Schmerz leben. Ich vergesse ihr Leben, das sie versuchen zu überstehen.

9 Gedanken zu “Tomaten

  1. Ich kann meinen Vorschreiberinnen nur zustimmen.. das ist ein wundervoller Text, packende Gedanken ausgedrückt durch einen ausgezeichneten Schreibstil..
    Mir geht es oft genau so…

    Gefällt 1 Person

    1. Dankeschön, das freut mich!
      Man selber könnte vielleicht ein Leben retten oder jemanden helfen, durch eine schreckliche Zeit zu gehen, doch irgendetwas hält einen immer zurück. Ist es Angst oder Schüchternheit? Oder sind wir es einfach nicht mehr gewöhnt, mit anderen Mitmenschen direkt tiefgründig zu kommunizieren?

      Like

Hinterlasse eine Antwort zu missanhknown Antwort abbrechen